Körperkult – Die neue "Soziale Plastik" fast 50 Jahre nach Beuys

1967 prägte der Künstler Joseph Beuys die Theorie der 'Sozialen Plastik', nach der jeder Mensch durch kreatives Handeln zum Wohl der Gemeinschaft beitragen und dadurch plastizierend, also formend, auf die Gesellschaft einwirken könne. Daraus entstand die These, dass eigentlich jeder Mensch durch sein Einwirken auf die Gesellschaft ein Künstler sei und nicht nur derjenige, der im Bereich der bildenden oder darstellenden Kunst und der Musik Werke erschaffe.

Heute, bald fünfzig Jahre später, ist offenbar tatsächlich jeder Mensch zu einem Künstler geworden: Primäres Ziel seines Einwirkens scheint mittlerweile aber weniger eine Formung der Gemeinschaft, sondern vielmehr die des eigenen Körpers zum Gesamtkunstwerk zu sein. Offensichtlich ist allerdings, dass auch dieser individuelle Körperkult unsere Gesellschaft maßgeblich prägt. Aber geschieht dies letztlich auch zu ihrem Wohl?



Joggen, färben, piercen, spritzen, hungern ...

Der Kult um den eigenen Körper kennt heute kaum noch Grenzen: Hinter den gläsernen Fassaden der Fitnessstudios mühen sich Menschen aller Altersstufen an den Kraftmaschinen, der Wald ist voller Jogger und Radfahrer, in den Innenstädten und im Internet tummeln sich die Shopper, die dem letzten Modetrend hinterherjagen. Es wird gefärbt und geschnitten, gezupft und künstlich verlängert, lackiert, tätowiert, gepierct, geritzt und eingebrannt. Es wird retuschiert, gecremt und geschminkt, gespritzt, operiert und abgesaugt, geschluckt, gehungert und erbrochen. Menschen stürzen sich an Gummiseilen von Brücken oder auf Snowboards in Lawinen. Es wird "geposed" und dokumentiert, gepostet und gecastet – eine endlose Bilderflut wird produziert und konsumiert. Warum machen sie das?

Viele Ursachen können Wissenschaftler heute mit Hilfe der Evolutionsbiologie erklären, die sich in ihren Grundzügen auf die von Charles Darwin aufgestellten Theorien bezieht. Darwin leitete – vereinfacht gesagt – jeglichen Sinn in der Biologie letztlich aus der Notwendigkeit der Evolution lebendiger Wesen durch Reproduktion und Diversifikation ab.
Der Mensch ist allerdings kein Bakterium, dass sich zur Arterhaltung einfach in zwei identische Teile teilt. Neben einigen wenigen Tieren erkennt sich der Mensch als Indivduum selbst im Spiegel. Er hat ein Bewusstsein und ist in der Lage, eine äußerliche Haltung zu seinem Körper einzunehmen; sei sie reflexiv oder instrumentell. Wir können unseren Körper schön oder hässlich finden, können ihn formen und manipulieren. Wir leben und adaptieren in komplexen sozialen Zusammenhängen.

Durch Studien erwiesen ist, dass in unserer Gesellschaft schöne Menschen leichter eine Stelle, mehr Geld oder eher einen Partner bekommen. Sie haben höhere Aufstiegschancen im Job und sind sozial besser akzeptiert. "Schönheitshandlungen" sind daher meist sehr rational und auf Effizienz begründet. Sie sind erfolgsorientierte (und oftmals harte) Arbeit. Schönheit verkörpert sozialen Status – und soziale Unterschiede nehmen im Körper Gestalt an.



Loslösung vom "gottgegebenen" Schicksal

Früher war die Wahl eines Partners oder einer Partnerin keine reine Schönheitswahl, sondern erfolgte in erster Linie nach sozialer Zugehörigkeit zu einem Clan, einem Stand oder einer Religion. Diese Zugehörigkeit wurde – genau wie die körperliche Schönheit – als natur- oder gottgegebenes Schicksal erachtet. Spätestens seit der Aufklärung sowie durch den technischen Fortschritt und dem damit einhergehenden materiellen Wohlstand leben wir sowohl in Bezug auf die Schönheit unseres Körpers als auch auf unsere soziale Gruppenzugehörigkeit stärker denn je in einer Optionsgesellschaft. Der Mensch ist nun nicht nur für sein eigenes Leben verantwortlich, sondern er kann es auch in die eigenen Hände nehmen und gestalten.

Die Loslösung aus ehemals gegebenen und ursprünglich oft religiös begründeten Strukturen, die gleichzeitig auch sinnstiftend wirkten, und die weitgehende Aufhebung normativer Regulierung von Körper und Kleidung bedeuten allerdings nicht nur einen Gewinn an relativer Wahlfreiheit für das Individuum und damit eine zunehmende Möglichkeit der Individualisierung, sondern mit ihnen gehen auch die Notwendigkeit einer neuen Selbstverortung und die Frage nach einer neuen Sinnfindung einher, also der Suche nach Identität, Halt, Sicherheit und Orientierung im Leben.

Heute sind in unserer pluralistischen Gesellschaft durch zunehmende Individualisierung daher Selbstfindung und Selbstverwirklichung zu zentralen sinnstiftenden Inhalten geworden. Im religiösen Sinne könnte man auch von der Selbstfindung als einer Art "Diesseitserlösung" sprechen, und damit vom Selbst als dem eigentlichen, kultisch verehrten Gott der Gegenwart. In Diskrepanz zu diesem egozentrischen und selbstgenügenden Bild steht allerdings unser Bewusstsein, dass neben der Selbstreflexion auch eine Notwendigkeit zur Spiegelung unseres Selbst im sozialen Kontext besteht. Wir können uns selbst letztlich nur als das sehen und definieren, was auch unser Gegenüber wahrnimmt und uns – möglichst positiv – bestätigt.
Besonders augenfällig wird diese empfundene Notwendigkeit beispielsweise in sozialen Netzwerken wie etwa Facebook durch die so genannte "Finde ich gut"- bzw. "I like"-Funktion, bei der man sich durch eine positive Bestätigung von Anderen vor allen Dingen eine positive Bestätigung des Selbst erhofft. Ein solchermaßen gesteigertes Bedürfnis nach Wertschätzung von außen spricht im Umkehrschluss allerdings auch für einen hohen Grad an individueller Verunsicherung in unserer heutigen Gesellschaft.



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Einladung zum Download:



Marina Abramovic: Aus der Performance "Art Must Be Beautiful / Artist Must Be Beautiful", 1975



Sandra Ackermann: "I look inside you", Öl auf Leinwand, 2010




Edin Bajric: "Narziss (liegend)", Öl und Acryl auf Leinwand, 2009



Anna Borowy: "Candy", Öl auf Leinwand, 2010



Daniele Buetti: "Nike" (aus der Werkgruppe "Looking for Love"), C-Print auf Aluminium, perforiert, 2000



Kirsten Geisler: "Dream of Beauty 2.2 – Touch me", interaktive Computeranimation, 1999


Giovanni Manfredini: Ohne Titel, Körperabdruck auf Muschelmehl und Ruß, 2012



Susannah Martin: "Fräulein", Öl auf Leinwand, 2010



Petra Mattheis: "unter" (aus der Serie "Schrein"), Holz, Glas Futterstoff, Schamhaare, 2013



Heiner Meyer: "Sugar Crisp II", Öl und Schellack auf Leinwand, 2008



Lucie Mercadal: Aus der Videoperformance "Sorire (Lächeln)", 2007



Torsten Mühlbach: "Anubis trauert um die tote Miss Piggy", Internationale Mülltüten, getackert auf Holz, 2012



Peter Simon Mühlhäußer: "The Innerself", Carraramarmor, antikes deutsches Glas, Kunstharz, 2011



Sabine Naumann-Cleve: "... und jeden Morgen spricht Paris sein Urteil und jeden Morgen hört Venus mein Klagen", Personenwaagen, Badematte, Papier, Fotopapier, Tinte, Textilfarbe, 2003